(Deutsch) China braucht einen dritten Ruck
»Die ›China-Story‹ ist noch lange nicht vorbei.« Jedenfalls für Unternehmen aus dem deutschsprachigen Raum, Maschinenbauer im Besonderen. Denn sie bieten genau das an, was China heute bei der Umstrukturierung seiner Wirtschaft braucht: Hocheffiziente Technologien als Grundlage für mehr Wertschöpfung in der Industrie. Das sagt einer, der seit fast fünf Jahrzehnten in Hongkong arbeitet und das Chinageschäft unzähliger Unternehmen als Berater begleitet hat: Jürgen Kracht. Der Gründer und Chairman der Fiducia Management Consultants kennt wie kaum ein anderer die chinesische Entwicklung der vergangenen Jahre und wie internationale Unternehmen davon profitiert haben. Er sagt aber auch, die Europäer müssten umdenken, denn es ist längst nicht mehr so, dass nur die Chinesen von den ihnen lernen könnten. »Jetzt ist es angesagt, auch von den Chinesen zu lernen.« Wie sie das Internet nutzen, um ihre Geschäftsideen zu verwirklichen, zum Beispiel.
Offener werden. Beim Thema »Internet« macht er sich aber so seine Gedanken. Ja, die Chinesen hätten erkannt, welches Potenzial in der Technologie liegt und Unternehmer wie Alibaba-Chef Jack Ma haben es genutzt, um »Handelsimperien« aufzubauen, die ihresgleichen suchen. Doch fragt sich Jürgen Kracht, ob die chinesische Regierung gut beraten ist, die »Große Mauer« im weltweiten Netz immer höher zu ziehen. Es sind weniger politische Fragen, die ihn dabei bewegen. Wenn Ministerpräsident Li Keqiang fordere, die Innovationskraft der einheimischen Wirtschaft zu stärken, müsse er auch dafür Sorge tragen, dass sich Ingenieure und Wissenschaftler über technologische Entwicklungen in der Welt informieren können. Es gehe um Meinungsbildung und die Suche nach besten Lösungen. Und es gehe um einen intensiven Austausch. »Die Möglichkeit, zu sehen, was in der Welt passiert«, wie es Jack Ma einmal formuliert hat, sei die größte Errungenschaft der vergangenen Jahre und dürfe nicht behindert werden, ist Jürgen Kracht überzeugt.
Für ihn sind die bestehenden Schranken auch ein Grund dafür, dass China nicht so innovativ ist, wie es eigentlich sein könnte. Im Maschinenbau jedenfalls. Zwar werde mit »Made in China 2025« eine ähnliche Strategie wie mit der deutschen »Industrie 4.0« verfolgt. Jürgen Kracht glaubt aber nicht, dass die Chinesen in diesem Bereich aufholen können. »Ich sehe wenig innovative Ansätze im chinesischen Maschinenbau. Davon profitieren unsere Kunden.« Müsse denn aber China in einer globalisierten Welt, die von zunehmender Arbeitsteilung geprägt ist, tatsächlich in allen Branchen innovativ sein? Immerhin habe der von ihm erwähnte Alibaba-Konzern durchaus Innovation bewiesen, Telekommunikationsunternehmen wie Huawei, ZTE oder seit fünf Jahren auch Xiaomi ebenso.
Es gibt nicht nur ein Innovationscluster im Land. Zhongguancun in Peking gehört dazu, wo Ende der 1980er-Jahre Wissenschaftler aus den Universitäten die ersten Technologie-Start-ups gegründet haben. Der Computer-Riese Lenovo ist daraus zum Beispiel hervorgegangen. Jürgen Kracht lässt dies nachdenklich werden und er kommt zu dem Schluss: »Potenzial ist noch vorhanden.« Und er gibt zu, was Xiaomi auf die Beine gestellt habe, sei beeindruckend, »doch beim Branding hat Apple einen Vorsprung«.
Dennoch stellt er fest, China brauche einen »dritten Ruck«. Der erste ging durch das Land, als Deng Xiaoping Ende der 1970er-Jahre China öffnete und tiefgreifende Reformen einleitete. Der zweite, als China unter Ministerpräsident Zhu Rongji in die Welthandelsorganisation aufgenommen wurde. »Damit wurden eine weitere Marktöffnung und Reformen erzwungen. «Und jetzt müssten mit einem weiteren Liberalisierungsschritt die Voraussetzungen geschaffen werden, dass sich kleine Unternehmen entfalten können, dass sie besseren Zugang zu Kapital und Markt haben. Hongkong und Taiwan hätten es vorgemacht. Dort seien es die kleinen Unternehmen, die den wirtschaftlichen Erfolg tragen. Den Chinesen liege das »Unternehmertum im Blut«. Sie müssten nur »von der Leine gelassen« werden. Zu viel Bürokratie hindere die Entwicklung. Auf die Entgegnung, Bürokratieabbau habe sich die Regierung weit oben auf die Fahne geschrieben, sagt Jürgen Kracht nur: »Die Regierung ist schwach und hat mit zu vielen Widerständen zu kämpfen.
«Das zeige sich auch in der Antikorruptionskampagne. Die Wurzeln für Korruption in der Wirtschaft würden nicht angepackt. Und für ausländische Unternehmen habe die Kampagne oftmals den negativen Effekt, dass Ansprechpartner bei Behörden von einem Tag auf den anderen nicht mehr zur Verfügung stünden. Als Jürgen Kracht 1971 nach Hongkong kam, war er zunächst bei Jebsen beschäftigt und dort ab 1975 für den Aufbau einer neuen Abteilung für Controlling zuständig. Damals gehörte Korruption in Hongkong zur Tagesordnung und bereitete den Unternehmen große Kopfschmerzen. Egal ob Autos, Chemikalien, Maschinen oder Flugtickets, die Käufer verlangten sogenannte »Marmelade«. Selbst die Feuerwehr löschte nur, wenn ein entsprechendes Bakschisch herübergereicht wurde, erinnert sich Jürgen Kracht. Dem habe 1978 Gouverneur MacLehose mit einem strengen Gesetz gegen Korruption den Riegel vorgeschoben: Gebern wie Nehmern drohten Gefängnisstrafen. Das habe gewirkt. Hongkong ist heute im Prinzip korruptionsfrei. Jürgen Kracht sagt, es gebe in China drei Arten von Korruption: private, geschäftliche und die in der Verwaltung. Präsident Xi Jinping greife aber nur die in den staatlichen Institutionen an. »Das führt nicht zum Erfolg.
«Neu denken. Wenn Jürgen Kracht wie eingangs erwähnt sagt, die »Erfolgsgeschichte China« ist noch nicht vorüber, heißt dies für ihn gleichzeitig, die Unternehmen müssten sich auf eine neue Situation einstellen. Damit meint er nicht nur das moderatere und als »neue Normalität« bezeichnete Wirtschaftswachstum des Landes. Seit Jahren fordert er, den Tochtergesellschaften in China mehr selbstständiges Handeln zuzugestehen. Während Finanzen und Controlling nach wie vor die engen Zügel des Mutterhauses brauchen, »müssen die China-Töchter im Tagesgeschäft mehr Freiheiten haben«. Und er fragt: »Wie soll denn ein Unternehmen aus der Ferne gelenkt werden, wenn die deutsche Tochter in China genauso viel Umsatz wie die Mutter in Deutschland macht?« Wichtig sei zudem, sicherzustellen, dass sich mögliche Probleme in einer chinesischen Tochtergesellschaft nicht unmittelbar auf die Bilanzen des Mutterhauses in Deutschland auswirken.
Jürgen Kracht macht sich außerdem Gedanken darüber, wie das Chinageschäft in den kommenden Jahren noch besser aufgestellt werden kann und welche Rolle Hongkong in der Unternehmensstrategie spielen kann und muss. Klar sei, ein Unternehmen, das in China verkaufen will, müsse heute nicht mehr den Umweg über Hongkong gehen. Anders sehe es aber bei der Beschaffung aus, von Konsumgütern etwa. Dabei gewinne Hongkong als Plattform für die Region eine immer größere Bedeutung.
China habe heute das Potenzial, Teile der Wertschöpfung »herauszuschneiden«. Die Produktion ließe sich outsourcen, ohne eine eigene Fertigung zu haben. »In Deutschland bleibt das Hirn, die Entwicklung, in China wird produziert, über Hongkong verkauft – das ist doch eine fantastische Arbeitsteilung.« Von der profitierten auch die deutschen Konsumenten, denen China als Lieferant in den vergangenen 30 Jahren eine Deflation der Preise für Konsumgüter beschert habe. Daran ändere auch das immer noch bestehende negative Image von »Made in China« nichts, ganz abgesehen davon, dass es längst nicht mehr zutreffe. »Es wird wohl noch eine Generation dauern, ehe sich das Image ändert.« Dabei hätten Firmen wie Adidas und Seidensticker bewiesen, dass es geht. Weder bei den Sportartikeln noch bei den Hemden schaue noch jemand darauf, wo sie hergestellt werden. Bei Maschinen oder Autos sei das anders: »Hier bleibt ›Made in Germany‹ für das Branding wichtig.«
Dieser “Manager im Gespräch” Artikel erschien in der Juli Ausgabe 2015 im China Contact Magazin. Autor: Peter Tichauer